Meine liebste Rosa,
kannst Du Dir vorstellen, wie glücklich es mich machte, gestern endlich, endlich wieder Deine Stimme zu hören? Dann hast Du erst eine Ahnung, wie unglücklich und wütend ich war, Dich nicht besser verstehen, mich nicht besser mit Dir verständigen zu können. Ach Rosa, es ist eine Welt von Fragen, über die ich mich mit Dir aussprechen müßte. Du weißt, wie mißtrauisch ich gegen mein eigenes Urteil bin. Und hier habe ich liebe Menschen, deren Meinungen und Auffassungen mich anregen können, aber niemand, dessen Urteil über die Situation mir maßgebend für Selbstorientierung und Selbstverständigung wäre. Ich bin ganz auf mich gestellt, und noch habe ich meine alte Kraft und Frische nicht wieder. So ist das Bedürfnis nach einem Wiedersehen mit Dir starker als je, von allen rein persönlichen Empfindungen abgesehen. Ich begreife, daß Du jetzt nicht fort kannst. Deshalb bleibt es meine Absicht, so bald es nur möglich sein wird, zu Dir zu kommen. Also wundere Dich nicht, wenn ich eines Tages einfach da bin. Noch eine andere Erwägung spielt dabei mit. Könnte ich nicht in Berlin nützlicher sein, mehr leisten als hier? Ich habe das Gefühl, als sei Stuttgart kein Boden für mein Wirken. Und ich möchte doch etwas mehr tun, als das Leipziger Frauenblättle1 redigieren.
Ich sehe die Lage so: Der Ausgangspunkt der deutschen Revolution war eine Soldatenbewegung für soldatische Forderungen. Aber unter den gegebenen Bedingungen mußte sie ja ein revolutionärer politischer Kampf werden gegen den Militarismus, gegen das persönliche Regiment, für die politische Demokratie. Dieser Kampf mußte naturnotwendig von proletarischen Massen durchgefochten werden. Für die Bourgeoisie sind längst Militarismus und persönliches Regiment aus feindlichen Gewalten zu sorgsam gehüteten Stützen der bürgerlichen Ordnung geworden; die volle Demokratie erscheint dagegen als das homerische Danaergeschenk, dessen hohler Bauch die Troja zerstörenden Kriege trägt. So stand die Bourgeoisie bei der Aktion für die politische Demokratie tatenunlustig und argwöhnisch beiseite. Das Proletariat errang die politische Macht, fast ohne ernstlich gekämpft zu haben. Oder richtiger: Sein Kampf war negativ gewesen, waren die Prügel, die die Arbeiter als Gladiatoren des Imperialismus von dem Imperialismus der Entente bezogen hatten. Das Proletariat siegte, weil die Bourgeoisie es geschehen ließ und weil sie zum Teil überrascht war. Nach der proletarischen Demut und Selbstbesudelung der Kriegsjahre fürchtete die Bourgeoisie das «klassenbewußte» Proletariat der Scheidemänner nicht mehr, sie erwartete alles von ihm, nur nicht den Kampf. Dazu die billige Gelegenheit, einer sozialdemokratischen Regierung die Liquidierung der Erbschaft des Weltkrieges an den HaIs zu hängen. Indem aber proletarische Massen zu Trägern des Kampfes wurden, griff dieser über die Grenzen der politischen Demokratie, einer bürgerlichen Revolution hinüber. Er mußte diese Grenzen überspringen angesichts der Fragen, die durch den Weltkrieg, den Bankrott des internationalen Imperialismus, den katastrophalen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt aufgerollt wurden. Die Schale des politischen Umsturzes ließ den in ihrem Innern ruhenden sozialen Kern sehen; die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Umsturzes trat zutage, das Ammenmärchen von der Klassenharmonie verstummte vor dem Waffenklirren des Klassenkampfes. Die Bourgeoisie kriecht überall aus ihren Löchern hervor, um sich zur Niederwerfung der Revolution zu sammeln. Sie beginnt schon wieder mit den Mächten der Vergangenheit zu paktieren, um die Zukunftsmacht des Proletariats zu brechen. Die Forderung der Republik verschwindet, der Sehnsuchtsschrei nach der Monarchie wird kaum noch übertönt durch das traditionelle Eiapopeia der «Demokratie». Demokratie ja, aber nur soweit sie unumgänglich ist, um Bourgeois- gegen Junkerinteressen durch Anteilnahme an der Macht zu wahren, um Bourgeoisinteressen gegen Proletarierinteressen durchzusetzen, indem man durch Konzessiönchen den Arbeitern den Mund stopft, derweil man ihnen die Fäuste knebelt. Die konstituierende Nationalversammlung ist der deckende Schild der bourgeoisen Gegenrevolution. Die völlige Liquidierung des Kriegs-Feigenblatts für das Streben, eine angebliche Volks- und Klassenharmonie zu konstruieren, in deren Schatten sich die Diktatur der Bourgeoisie einnisten und befestigen kann. Aber diese Liquidierung muß zugleich zur Säure werden, die die Klassen, die Geister scheidet. Sie stellt vor die Frage: Liquidierung im Zeichen des Sozialismus oder des Kapitalismus. Sie entfesselt den Klassenkampf mit der Schärfe und Riesenhaftigkeit des Weltkriegsgeschehens. International. Sie gibt dem Kampf um die Macht neuen Odem, läßt ihn in Deutschland erst im eigentlichen Sinne revolutionär werden. Die Frage steht dann, ob das Proletariat die Macht mit der Bourgeoisie teilen will, was letzten Endes darauf hinausläuft, auf die Macht zu verzichten, oder ob es kämpfen will. Schon heute zeigt es sich wie die Dinge stehen. Der größte Teil des Proletariats will sich unter der Führung der Abhängigen2 mit Almosen der Macht begnügen. Aber es fragt sich doch, ob dieser Teil objektiv geschichtlich kann, was er subjektiv will. Ich sage, die Verhältnisse antworten darauf: Nein. Die Genügsamkeit müßte buchstäblich zur Selbstvernichtung des Proletariats führen. Die Verhältnisse werden Wasser auf die Mühle der Linkssozialisten treiben, wenn sie den Kampf um die ganze Macht mit sozialistischem Inhalt aufnimmt. Wird die USP diesen Kampf aufnehmen? Wie bisher, so streiten zwei Seelen in ihrer Brust. Die Neigung ist da, auf grundsätzliche Klarheit und revolutionäre Aktion zu verzichten. Aber auch die Kräfte sind da, die dieser Neigung entgegenwirken, meiner Ansicht nach sogar mit steigender Macht entgegenwirken. Siehe Leipzig. Die Aufgabe der Internationalen3 ist es, die Massen voranzutreiben zu grundsätzlicher Erkenntnis und revolutionärer Kühnheit. Mit der USP, soweit diese revolutionär auftritt, ohne sie und gegen sie, wenn sie darauf verzichtet. Die Frage ist, wie wir diese Aufgabe am wirksamsten erfüllen können. Dem Verband der USP eingegliedert oder als selbständige Partei. Meinem Empfinden würde die reinliche Scheidung entsprechen, aber meine Auffassung der Lage verwirft sie für den Augenblick. Möglich, sogar wahrscheinlich, daß die Trennung unvermeidlich wird. Aber dann sollen wir sie vollziehen unter den Umständen, die unserer Einwirkung auf die Massen am günstigsten sind, Umstände, die die Trennung aus einer Frage mehr oder minder großer Organisationen zur Sache größerer proletarischer Massen machen würden. Solche Umstände fehlen jetzt. Die Trennung würde ein kaum bemerktes Ereignis sein, ohne Verständnis und Echo bei den Massen zu finden. Und wir würden uns bei unserer notorischen Schwäche an führenden Menschen und Mitteln den Zugang zu den Massen erheblich erschweren. So bin ich der Ansicht, daß wir mit unbeugsamer grundsätzlicher Kritik zunächst in der USP bleiben. Thalheimer und Rück waren für die sofortige Trennung. Sie wollten heute schon eine selbständige Partei gründen. Sie erklärten, daß ihrer Überzeugung nach und soweit sie aus bestimmten Indizien schließen könnten, auch Du für sofortige Verselbständigung seiest. Ich sagte ihnen, daß ich das nicht zu glauben vermöchte. Ich hatte eine lange und leidenschaftliche Aussprache mit ihnen, die aber ihre Auffassung nicht zu ändern vermochte. Ich sagte ihnen, daß meine Überzeugung mir verwehre, jetzt die Scheidung mitzumachen, daß ich aber — um Mißdeutungen zu vermeiden und in keine schiefe Stellung zu geraten — die Redaktion des Frauenblatts niederlegen würde. Einige Tage später hatte ich das Gespräch mit Dir, und ich atmete befreit auf, daß Du und Leo [Jogiches] meine Auffassung teilt. Es hatte zu dem Schmerzlichsten in meinem schmerzensreichen Leben gehört, hätte ich mich in so entscheidender Sache und Stunde von Dir trennen müssen.
Nun, da ich mit mir selbst klarer und einiger geworden bin, werde ich nach Kräften hier zu wirken suchen. Soweit es mein physisches Vermögen irgend gestattet, will ich an dem politischen Leben der Stuttgarter Spartakusgruppe teilnehmen, ich will unserer grundsätzlichen Auffassung entsprechend in der Öffentlichkeit tätig sein. Zumal auch für die Frauen. Unser Kampf bedarf jetzt mehr als je der Frauen. Durch das Frauenblatt kann ich nur auf die führende Elite der Frauen wirken. Auch das ist wichtig, aber es ist von höchster Wichtigkeit, daß wir unmittelbar proletarische Frauenmassen erfassen. Dazu brauchten wir eine Tageszeitung, brauchten wir kurze Flugblätter. Die Tageszeitung ist zur Zeit unmöglich. Häufig erscheinende Flugblätter müßten sie ersetzen. Sie müßten positiv unsere Forderungen vertreten, wie sie einzeln durch die Ereignisse in den Vordergrund geschoben werden. Wir kommen kaum um die Nationalversammlung herum. Wir müssen versuchen, ihre konterrevolutionäre Gefahr unschädlich zu machen.
Am breitesten treten vor die Frauen die Folgen der Demobilisation: Ernährungsfrage, Verdienst oder Arbeitslosigkeit etc. Hier müßten wir einsetzen, um unsere Forderungen unter die proletarischen Frauenmassen zu tragen. Die einzelne Forderung mit ihrem großen Gedankeninhalt müßte in die einzelnen Gedanken zergliedert werden. Mehr als einen Gedanken auf einmal verdauen die Massen nicht, die Frauen erst recht nicht. Es müßte bei der Darstellung möglichst an Lokalverhältnisse angeknüpft werden. Wenn Ihr mir Material gebt, will ich Euch gern helfen, solche Flugblätter zu schreiben. Ich erwarte einen Brief von Dir mit Weisungen.
Maxim [Zetkin] ist mit seinem Lazarett auf dem Rückmarsch. Er litt fast ständig an Magen- und Darmkatarrh sowie an Rheumatismus. Kostja [Zetkin] ist noch in einem Genesungsheim bei Stuttgart. Seine Nerven sind noch ganz herunter. Wohin er demnächst als Feldhilfsarzt kommandiert werden wird, wissen die Götter. Diese Ungewißheit lastet schwer auf ihm. Er hat die Absicht, sich eventuell »selbst zu entlassen« und nach Tübingen zu gehen, um sein medizinisches Studium zu beenden. Er hungert nach einem Abschluß, nach einer festen Tätigkeit und Selbständigkeit.
Morgen werden es fünf Wochen, daß Friedel [Zundel] schwer krank liegt. Fast drei Wochen daheim, seit vierzehn Tagen im Krankenhaus, weil schroff bei Tag und Nacht nervöse Anfälle eintreten, die ihm Todeskampf- und Todesangstgefühle bringen, und die ärztlichen Beistand benötigen. Nicht daß der Arzt objektiv etwas helfen könnte, aber subjektiv ist seine Anwesenheit nötig, damit der Dichter den Zustand überwindet. Es ist ein Jammer. Du weißt auch ohne Worte, was diese Wochen mir auferlegt haben und was ich leide.
Die Revolution habe ich Samstag [9. November 1918] bei den Soldaten mitgemacht, dann Sonntag endlose Besprechungen und Sitzungen ohne Ergebnis und Wert. Montag war ich im Kriegsgefangenenlager Ulm, um die armen Teufel aufzuklären und zu beruhigen. Man fürchtete, sie würden ausbrechen, und die Militärgewalt war entschlossen, jede »Auflehnung« mit Maschinengewehren niederzukartätschen. Ich hielt fünf Reden im Freien, vor: Franzosen, Italienern, Rumänen und Serben, Russen [und] den deutschen Wachmannschaften. Die Ausländer waren sehr beglückt und dankbar. Die Russen gaben mir einen herzlichen Gruß und Dank für das revolutionäre deutsche Volk mit. An diesem Tag noch zwei kurze Reden; in Ulm auf dem Münsterplatz und in Göppingen auf der Straße unter den Jahrmarktsbuden. Ich kam todmüde und heiser heim.
Gestern große Frauenversammlung, leider einberufen von 17 Frauenorganisationen, darunter ganz reaktionäre. Das Publikum überwiegend bürgerlich. Trotz meiner Auffassung gab es viel Zustimmung, aber ich habe gelernt, solche Zustimmung des Augenblicks als nichts zu werten. Leider haben unsere Leute bis nun so gut wie nichts getan, um die Frauen zu wecken und aufzuklären, die dort mit für die Arbeiterräte zu wählen hatten.4 Ich fürchte, das Wahlresultat wird kläglich sein: eine kompakte Masse sozialdemokratisch-opportunistischer und bürgerlich gesinnter Delegierter, ein Teil Parteigänger der USP, darunter vereinzelte Spartacis.
Liebste Rosa, ich harre mit Ungeduld auf Deine Antwort. Von dem Unendlichen, was ich Dir noch sagen möchte, schweige ich. Ich drücke Dich fest, fest an mein Herz.
Deine Clara
Grüße alle, zumal Karl [Liebknecht] und Leo [Jogiches].
1 Clara Zetkin gab seit dem 29. Juni 1917 die Frauenbeilage der «Leipziger Volkszeitung» heraus.
2 Clara Zetkin meint mit den «Abhängigen» die Mehrheitssozialdemokraten der SPD, im Gegensatz zu den Mitgliedern der «Unabhängigen», der USPD.
3 Gemeint sind die Mitglieder der Spartakusgruppe, die sich offiziell «Gruppe Internationale» nannte.
4 Im württembergischen Arbeiter- und Soldatenrat und seinem Vollzugsauschuss, dem u.a. Edwin Hoernle, Fritz Rück, August Thalheimer und Jacob Walcher angehörten, besaßen die Spartakusgruppe und die USPD zunächst die Mehrheit.
Zuerst veröffentlicht in: Vorwärts, 1. Mai 1969, Bonn.
Hier zitiert nach Marga Voigt: Clara Zetkin. Die Kriegsbriefe, Bd. 1, Berlin, S. 437-442.