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Eigentlich interessierte sich Clara Zetkin gar nicht für das Frauenwahlrecht. »Das Stimmrecht ohne ökonomische Freiheit ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wechsel, der keinen Kurs hat«, sagte sie als junge Frau in ihrer ersten großen öffentlichen Rede 1889.
Ihr Lebensgefährte Ossip Zetkin war kurz zuvor an einer schweren Krankheit gestorben, ein politischer Flüchtling, mit dem sie im Pariser Exil lebte. Sie hatte ihn gepflegt und sich um die beiden gemeinsamen Kinder gekümmert. Für die Miete der viel zu kleinen, feuchten Arbeiterwohnung wusch sie Wäsche und schrieb für die deutsche sozialdemokratische Presse. Vielleicht war es ihre Art, mit der Trauer umzugehen, sich sofort in die Organisation eines internationalen Sozialistenkongresses mit 400 Delegierten zu stürzen und dort einen Vortrag zu halten – obwohl sie panische Redeangst hatte.
Nach Clara Zetkin benannte fast jede Stadt der DDR eine Straße, im Westen kennen sie wenige. Vor gut hundert Jahren jedoch war sie eine markante Persönlichkeit in der Frauenbewegung und in der SPD, später in der KPD. Der Weltfrauentag am 8. März geht auf sie zurück, sie eröffnete 1932 den Reichstag mit einer antifaschistischen Rede und stand in der Frauenbewegung stets für die Arbeiterinnen ein.
Was ändern schon Wahlen am Kapitalismus?
Warum Zetkin einst in Paris das Frauenwahlrecht zur Nebensache erklärte: Im Kapitalismus würden Arbeiterinnen und Arbeiter, ob mit oder ohne Wahlrecht, immerzu unterdrückt und ausgebeutet. Deshalb sollten sie ihre Energie darauf konzentrieren, das System ganz abzuschaffen, statt nur Kleinigkeiten daran zu verändern.
Dann aber, 20 Jahre später, legte sich Zetkin für das Frauenwahlrecht mit SPD-Männern wie auch bürgerlichen Frauenrechtlerinnen an. 1910 war sie es, die einen internationalen Frauentag ins Leben rief, um für das allgemeine Frauenwahlrecht zu streiten. Was war geschehen?
Nachdem ihr Partner gestorben war und Sozialist*innen in Deutschland zumindest laut Gesetz keine Verfolgung mehr drohte, ging Zetkin 1890 mit ihren Söhnen zurück nach Deutschland – allerdings nicht nach Sachsen, wo sie 1857 geboren worden war, sondern nach Stuttgart. Denn dort durften Frauen an politischen Versammlungen teilnehmen, in vielen anderen Teilen des Kaiserreichs noch nicht .
Bei einem Studentenstreik lernte Zetkin ihren späteren Ehemann Friedrich Zundel kennen. Clara war 39, Friedrich 21 und als Kunststudent gerade von der Hochschule geflogen. Als Chefredakteurin der neuen sozialdemokratischen Frauenzeitung »Die Gleichheit« fiel es ihr leichter als in Paris, für sich selbst, ihre Söhne und ihren Partner zu sorgen.
»Das größte Hindernis ist eine fast unüberwindliche Schüchternheit.«
Sie fürchtete das öffentliche Sprechen und war zugleich auf beinahe toxische Weise selbstkritisch. An den SPD-Politiker Karl Kautsky schrieb sie einmal:
»Das größte Hindernis, was mich beim Arbeiten hemmt, das ist eine fast unüberwindliche Schüchternheit und Unzufriedenheit mit mir selbst. Wenn ich ein Manuskript abgeschlossen habe, empfinde ich hinterdrein stets Gewissensbisse, und wenn ich der Post nachlaufen und sie aufhalten könnte, täte ich das sicherlich.«
Dennoch meldete Zetkin sich bei Versammlungen Stuttgarter Sozialdemokraten stets mit klugen Redebeiträgen zu Wort und brachte ihr durchweg männliches Publikum zum Lachen und zu Bravorufen. Sie agitierte in den Gewerkschaften, sprach vor Frauenversammlungen und Arbeiterbildungszirkeln.
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Clara Zetkin: Feminismus und Sozialismus
268 öffentliche Reden hielt sie allein in einem Jahr, mitunter vor 1500 Menschen. Rasch wurde Zetkin bekannt, zu Parteitagen und internationalen Kongressen delegiert und als erste Frau in ein leitendes Organ der SPD gewählt, die Kontrollkommission. Ihre Arbeitstage umfassten 16 bis 20 Stunden.
Die Arbeiterinnen zu organisieren, war ihr Kernziel – schließlich konnte die Revolution nicht auf die Hälfte des Proletariats verzichten. Doch weil Frauen sich immer noch nicht politisch organisieren durften, lief die Agitation weithin im Untergrund. Immer wieder löste die Polizei Bildungszirkel für Arbeiterinnen auf. Aber auch die männlichen Genossen legten Zetkin und ihren Mitstreiterinnen Steine in den Weg. Dabei betonte sie stets, ihr gehe es bei der Frauenfrage um den gemeinsamen Kampf für den Sozialismus, nicht um Spaltung.
14 Stunden in der Fabrik, dann Haushalt und Kinder
Eine starke proletarische Frauenbewegung aufzubauen, war ohnehin schwierig. Frauen arbeiteten damals 14 bis 16 Stunden in Fabriken oder Werkstätten, danach wartete zu Hause noch die »zweite Schicht«: Haushalt und Kindererziehung. Ihnen blieb schlicht keine Zeit und Kraft, abends noch an Versammlungen teilzunehmen.
Clara, Tochter eines Dorflehrers und einer Frauenrechtlerin, hatte immerhin eine höhere Schule besuchen können. Durch ihre Exilzeit war es ihr vertraut, täglich hart für den Familienunterhalt zu arbeiten und zugleich den Haushalt zu stemmen. Sie verstand, wie wenig herkömmliche Mobilisierungsmethoden der Partei Arbeiterinnen erreichten, und suchte sie direkt in ihren Werkstätten auf. In kleinen Runden fiel es ihnen leichter zu sprechen, sie hörte zu und stand den Arbeiterinnen mit praktischer Solidarität zur Seite. So schrieb eine Teilnehmerin eines »Arbeiterbildungslehrgangs«:
»Man konnte über alles mit ihr sprechen: Erziehungsschwierigkeiten mit den Kindern, Ehenöte, Politik, Frauenfragen oder Bücher. Immer wusste sie eine Antwort und nie hatte ich bei ihr das Gefühl, dass sie sich über die Fragenden erhaben fühlte. War Hilfe nötig, konnte man sich auf Clara Zetkin verlassen.«
Zetkin sah auch, dass die Arbeiterinnen sich nur mit besseren Arbeits- und Lebensbedingungen überhaupt politisch engagieren konnten. Daher ihr Einsatz für das allgemeine Frauenwahlrecht: In den Zentren der Macht zählten allein die Anliegen derer, die auch eine Stimme zu vergeben hatten.
Am 8. März 1917 revoltierten russische Frauen
Selbst als Leiterin der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenzen musste sie diese Forderung hart verteidigen. So wollte sich die englische Delegation mit einem »Damenwahlrecht« für ledige Frauen mit Besitz begnügen. Die Konferenz 1910 einigte sich auf diese Resolution, inspiriert von amerikanischen Teilnehmerinnen und ausgearbeitet von Zetkin und Käte Duncker:
»Im Einvernehmen mit den klassenbewussten politischen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats in ihrem Lande veranstalten die sozialistischen Frauen aller Länder jedes Jahr einen Frauentag, der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient. Die Forderung muss in ihrem Zusammenhang mit der ganzen Frauenfrage der sozialistischen Auffassung gemäß beleuchtet werden. Der Frauentag muss einen internationalen Charakter tragen und ist sorgfältig vorzubereiten.«
Der 8. März als fixes Datum wurde erst einige Jahre später gewählt – um daran zu erinnern, wie Frauen in Russland, nach dem gregorianischen Kalender im Februar 1917, mit Brotrevolten die Februarrevolution ins Rollen brachten.
Zum ersten Internationalen Frauentag 1911 gab es allein in Berlin 41 Versammlungen, je 5000 Frauen gingen im Wedding und in Moabit auf die Straße. Bald darauf wurde der Frauentag vor allem genutzt, um gegen den Ersten Weltkrieg zu mobilisieren. Als die überwältigende Mehrheit der SPD bereits den Kriegskrediten zugestimmt hatte und die männerdominierte Internationale dem Zerfall nahe war, arbeitete Zetkin bei klandestinen Treffen mit internationalen Sozialistinnen einen Appell gegen den Krieg aus. Das brachte sie kurzzeitig ins Gefängnis.
»Meine Liebste, meine einzige Rosa!«
Neben den politischen Kämpfen setzte ihr auch eine chronische Krankheit zu. Ungeklärt ist, warum genau sie immer wieder Kreislaufzusammenbrüche, Fieber und starke Augenprobleme plagten, die sie teils monatelang ans Bett fesselten. Möglicherweise waren es die Spätfolgen einer Tuberkulose aus der Zeit in der schlecht beheizten Pariser Wohnung.
Ihre Kraft zog Zetkin aus der Wut über Ungerechtigkeit und einem leidenschaftlichen Glauben an eine bessere Welt. Und aus ihren Freundschaften. Ihr Haus stand immer offen für lange, laute Abende oder zum Übernachten auf der Durchreise: für Karl Liebknecht, Franz Mehring, August Bebel, Lenin.
Clara pflegte stets enge und tiefe Freundschaften, vor allem zu Frauen. Die wichtigste war die zu Rosa Luxemburg und hielt selbst, als Rosa ein Verhältnis mit Claras jüngerem Sohn Kostja einging. Am 13. Januar 1919 schrieb Zetkin ihr in einem Brief: »Meine Liebste, meine einzige Rosa! Wird dieser Brief, wird meine Liebe Dich je noch erreichen?«
Er erreichte sie nicht. Am 15. Januar wurde Rosa Luxemburg tot gefunden, am selben Tag wie Karl Liebknecht erschossen von Freikorps-Mördern. In ihrer Handtasche soll sie einen früheren Brief von Clara gehabt haben.
Arbeitssüchtig noch im Krankenbett
Bis zum Tod wehrte sich Clara Zetkin gegen jede Anerkennung ihrer Errungenschaften. »Ich habe immer nur meiner Natur gehorcht und verdiene dafür kein Lob«, sagte sie, als man sie auf einem Kongress der Internationale zu ihrem 64. Geburtstag ehren wollte. Sie blieb ein Workaholic. Selbst als sie in einem Erholungsheim in Archangelskoje nahe Moskau gepflegt werden musste, verfasste sie im Krankenbett noch Bücher.
»Arbeit ist für mich das, was Champagner oder Fusel für andere ist«, schrieb Zetkin an eine Freundin. Auch ihre Angst vor dem öffentlichen Sprechen blieb. Noch mit 71 Jahren verfluchte sie in einem Brief an Kostja Zetkin den Vortrag am folgenden Tag: »Ich liege in heftigen Wehen, habe auch Lampenfieber wie stets.«
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Trotz dieser Redeangst, schwerer Krankheit und Nazidrohungen eröffnete Zetkin 1932 mit 75 Jahren als Alterspräsidentin den Reichstag, den die NSDAP bereits dominierte. Sie selbst war inzwischen KPD-Abgeordnete. Aus Moskau schrieb sie der Parteizentrale: »Ich werde kommen – tot oder lebendig.« Ihre Eröffnungsrede war ein flammender Aufruf an alle Werktätigen, sich dem Faschismus entgegenzustellen.
Am 20. Juni 1933 starb Clara Zetkin in Archangelskoje. Im Fieberwahn, Stunden vor ihrem Tod, sprach sie von Rosa. Ihre letzte öffentliche Rede hatte sie erst kurz zuvor gehalten: am 8. März.